Steel City meets Sleaford Mods

Muckefuzz vom 03.05.2018

Sleaford Mods, Support: Muscle Barbie, No Waves, Posthof Linz am 29.04.2018

Hier die kleine Anleitung zu einer gelungenen Sleaford Mods-Sause: Am besten sind Sie ein abgewrackter Endvierziger mit ständig Liebes- oder sonstigem Kummer, lädierten Bandscheiben und ohne einen Cent am Konto. Sie haben nicht endlos viele Freunde, dafür aber einige wenige wirklich gute. Sie werden von einer dieser barmherzigen Seelen auf das Konzert im Posthof eingeladen. Sie hatten den Chelsea-Gig verpasst und den richtigen Riecher, dass das im Flex nicht so richtig gut – nicht so wirklich richtig gut – werden kann, und die Geduld abzuwarten, bis die Gentlemen aus Nottingham sich endlich in Ihre Heimatstadt verirren. Das müsste doch in gewisser Hinsicht ein Heimspiel werden.

Sie beschließen Ihre Kamera daheim zu lassen, kratzen Ihr letztes Kleingeld zusammen, holen ihre Begleiterin und Sponsorin zeitig von zu Hause ab und trinken in der Küche Ihr erstes Bier (wichtig!). Es ist ein warmer Frühlingstag (cool!). Sie machen sich gemeinsam auf den Weg ins Linzer Industrieviertel und beschließen den 46er zu nehmen. Dazu durchqueren Sie den übervollen Volksgarten, lassen dabei den Blick über die zahlreichen Freiluftschachspieler und spielenden Kinder schweifen und schätzen den Migrant*inn*enanteil auf etwa 99 Prozent, was Ihnen einen Grinser auf’s Antlitz zaubert. Sie verpassen den Bus. Sie nehmen also den 45er, der Sie zwar nicht direkt zum Veranstaltungsort bringt, Ihnen aber einen kleinen Spaziergang durch das Industrieviertel beschert. Sie steigen aus und genießen die wunderbare Aussicht auf die Stahlstadtkulisse, vorbei an Bahngleisen, Industrieanlagen, gewerblichen Gebäuden, Lagerhallen und wucherndem Unkraut. Sie kommen am Posthof an und sind jetzt in guter Stimmung.

Ihre Begleiterin holt die reservierten Karten an der Kasse ab und bemerkt, dass sie vor lauter Wischen am Smartphone versehentlich den Zahlencode gelöscht hat, der sie zur Entgegennahme der (bereits bezahlten!) Tickets berechtigt. Sie schildert das Problem und gibt ihren Namen an. Die Kassierin ist unglaublich relaxed, fragt kurz nach, tippt irgendetwas in den Computer ein und händigt die Tickets mit ausgesuchter Freundlichkeit aus. Sie fühlen sich augenblicklich zu Hause.

Sie begeben sich zur Grünanlage, finden eine kleine, sonnenbeschienene Treppe aus mit Edelrost überzogenem Stahlblech, nehmen darauf Platz und genießen Ihr zweites Bier (sehr wichtig! Immer brav nachfüllen) und den beschaulichen Sonnenuntergang. Sie treffen am Eingang ein paar Freunde und Bekannte und stellen fest, dass überhaupt alles da zu sein scheint, was Rang und Namen hat in der Industriestadt. Die Vorband fängt an zu spielen, Sie sind nicht ganz sicher, was Sie da gerade hören und einigen sich mit Ihrer Begleiterin darauf, dass sich der Sound wohl so als eklektischer, darker Synthpop-Surf-Rockabilly beschreiben ließe. Ihnen gefällt, was Sie hören. Sie genehmigen sich einige Nummern dieser grundsoliden und sympathischen Band und noch ein Bier (nicht nachlassen! Auch als passionierter Rotweintrinker ist der Gerstensaft für Sie heute die einzig richtige Wahl). Ihre Begleiterin macht Sie auf die junge Schlagzeugerin aufmerksam, ein Musiker hatte die Sicht auf sie verdeckt. Sie äußern sich bewundernd ob der engagierten und akkuraten Spielweise.

Sie gehen nach dem Auftritt wieder nach draußen – der laue Frühlingsabend ist einfach zu verlockend – und quatschen mit noch mehr Leuten. Sie sind jetzt schon mehr als gut gelaunt. Sie versäumen die zweite Vorband, vernehmen aber durch die offene Eingangstür, dass auch diese eine gute Figur macht. Zu bereits nächtlicher Stunde bemerkt Ihre aufmerksame Begleiterin die ersten Takte Sleaford Mods und Sie machen sich eilig auf den Weg in den Saal.

Da stehen sie also, die beiden Herren aus Nottz. Der Anblick ist exakt derselbe wie auf Youtube nur ohne Youtube dazwischen. Sie brauchen einen Moment um die Situation tatsächlich zu realisieren. Wow! Ein Stapel aus drei Bierkisten, darauf ein mit Stickern übersäter Laptop, dahinter Andrew Fearn mit einer Zipfer-Dose in der Hand, einem Grinser im Gesicht und im Takt der Musik mitwippend, vorne Jason Williamson mit dem Mikro in seiner Rechten, der Fontänen von Spuckenebel in den fast leeren, schwarzen Bühnenraum brüllt. That’s it. Wahnsinn! Sie sind jetzt bereits glücklich. Das Publikum ist so gemischt wie nur erdenklich möglich und geht altersmäßig schätzungsweise von 16 bis 76. Gespielt wird dann eigentlich eh alles von ‚TCR‘ über ‚BHS‘ bis hin zu ‚Jobseeker‘, ‚Tied Up In Nottz‘ , ‚Jolly F*cker‘, ‚Fizzy‘, ‚Tweet Tweet Tweet‘ u.s.w., das volle Programm, nebst einiger weniger bekannter aber nicht minder genialer Tracks. Von den Hits gefehlt hat eigentlich nur das (trotz des dreisten Samples oder gerade deswegen) wunderbar hypnotische Stück ‚Chop Chop Chop‘ – das ist allerdings dermaßen derb aggressiv und politisch unkorrekt, dass ich durchaus Verständnis dafür habe das live nicht riskieren zu wollen – und das unpackbar strenge ‚I Can Tell‘, aber das wiederum ist womöglich eher so eine persönliche Präferenz von mir und faktisch mein Einstieg ins Sleaford Mods-Universum, mein Erweckungserlebnis, könnte man/frau/kind im wörtlichen Sinn sagen.

Das hatte sich in etwa so zugetragen: Ich kam vor nicht ganz zwei Jahren sturzbetrunken nach Hause, wie gewöhnlich damals, konnte wie üblich nicht einschlafen und ließ als Schlummerhilfe ganz leise das Radio laufen. Um fünf oder sechs Uhr früh schreckte ich plötzlich aus dem Schlaf und vernahm das besagte Musikstück. Was in aller Welt ist das denn? Ich notierte, was den Worten des FM4-Moderators zu entnehmen war auf einen Zettel und schlief wieder ein. Am nächsten Tag begann ich dann zu recherchieren und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, bis heute.

Und ich bin beileibe nicht der Einzige. „Wir haben eine Bühnenshow und Jason hat eine Bierkiste. Toll. Wir sind erledigt.“, meint Neil Barnes vom britischen Elektronik-Duo Leftfield in der sehenswerten Doku Bunch of Kunst, und der Godfather des Punk Iggy Pop bezeichnet sie gar als die „zweifellos, absolut, definitiv beste Rock-’n‘-Roll-Band der Welt“. Was will man nach so einem Adelsprädikat überhaupt noch erreichen? Da kann man ja im Grunde gleich auf den Einzug in die Rock-’n‘-Roll-Hall-of-Fame pfeifen, oder? Wenn Sie mal in schlechter Stimmung sein sollten, kann ich Ihnen nur empfehlen sich durch die zahlreichen Interviews, ob in Video- oder Textform, zu klicken. Denn die beiden Herren sind nicht nur Ausnahme-Künstler sondern überhaupt ziemlich kompromisslos und dabei so angenehm unprätentiös, dass man/frau/kind sie einfach mögen muss. Oder haben Sie schon mal gehört, dass jemand aus der Labour Party rausgeschmissen wird – wegen ungebührlichen Betragens bzw. im verbrämten Originalsprech: wegen „online abuse“ (Herr Williamson hatte in einem Tweet seinem Unmut über einen Parteifunktionär spontan und ohne Umschweife Ausdruck verliehen, um es einmal so zu formulieren)?

Zurück zum Rezept für einen feinen Sleaford Mods-Abend: Ihre Begleiterin hat für Bier-Nachschub gesorgt (Sie brauchen das einfach. Nicht um betrunken zu werden – wo denken Sie hin – sondern um ordentlich zu schwitzen), der Saal ist nach ein paar Nummern schon gut aufgeheizt und einige im Publikum sind schon am Shaken. Nahezu jeder Track ist besser als der vorhergehende und Mr. Williamson liefert seine Performance mit einer Perfektion und offensichtlichen Freude an der Sache ab, die ihresgleichen sucht. Beschreiben lässt sich seine Bühnenpräsenz ohnehin kaum. Nur so viel: Auf der Bühne steht ein Ventilator, der exakt auf den Sänger ausgerichtet ist, wohl um dessen Überhitzung vorzubeugen (und glauben Sie mir, Herr Williamson hat wirklich den Eindruck erweckt, als hätte er die Kühlung nötig). Sollten Sie noch nicht das Vergnügen gehabt haben, dann klicken Sie sich einfach durch die zahlreichen im Netz vorrätigen Live-Videos, und Sie bekommen zumindest einen vagen Vorgeschmack auf das, was Sie auf einer Show der Sleaford Mods erwartet. Weiter im Text:

Jetzt sind Sie mit Bierholen dran. Nach einer geschätzten ganzen oder einer gefühlten halben Stunde hören die beiden einfach abrupt auf und gehen von der Bühne. Der Applaus ist erwartungsgemäß heftig, die Herren lassen sich auch nicht lange bitten, und die Zugabe fällt dann überaus großzügig aus. Mr. Williamson betritt die Bühne jetzt mit einem weißen Frottee-Handtuch über dem Kopf, das ihm dann effektvoll in der Bühnenmitte vom Kopf rutscht. Die Haare werden gewissenhaft in die Stirn gestrichen, bis der Reindl-Haarschnitt wieder sitzt, dann wird weiter in geschliffen ungeschliffenen Versen ins Mikrofon geschimpft. Im breitestem East-Midlands-Dialekt. Ihre Begleiterin, mit der Sie das Konzert bis jetzt unmittelbar vor der Bühne verbracht haben, schlägt jetzt vor sich in die Mitte des Saals zu begeben. Dort ist der Sound am besten. Sie folgen ihr und genießen den Rest des Konzerts in bester Klangqualität.

Sie sind überglücklich, fühlen sich seit langem wieder einmal als Mensch und würden am liebsten noch drei Stunden zur Musik der Sleaford Mods abtanzen. Sie gehen nicht gleich nach Hause sondern hängen lieber noch in der warmen Frühlingsluft ab, trinken gemütlich Ihr Bier aus. Sie unterhalten sich mit zwei Dudes, die extra aus Wien angereist sind, um das Konzert zu sehen, obwohl sie bereits auf den anderen beiden Österreich-Gigs der Nottinghamer waren. Sie bemerken, dass Mr. Fearn ebenfalls vor dem Eingang steht und sich ein Bisschen mit den Leuten unterhält. Die Stimmung unter den Konzertbesuchern könnte nicht besser sein, und es ist nicht der geringste Funke von Aggressivität zu bemerken. Sie wollen noch die beiden Leergebinde zurückbringen, treffen im Kassenraum Andrew Fearn (schon leicht angeheitert) und machen ihm (schon leicht angeheitert) ein ehrlich gemeintes und viel zu überschwängliches Kompliment. Sie wechseln ein paar Worte, Herr Fearn unterhält sich aber ohnehin lieber mit Ihrer Begleiterin, was Ihnen die Gelegenheit gibt die Becher gerade noch rechtzeitig ins Lokal zurückzubringen, bevor endgültig geschlossen wird. Ein freundlicher Mitarbeiter weist Sie an den seitlichen Ausgang zu benutzen, da er bereits alle anderen Türen dicht gemacht hat. Sie verlassen als letzter Gast die Bude. Draußen ist es noch immer angenehm warm.

Die Herren aus Wien beschließen ein Taxi ins Zentrum zu nehmen und bieten Ihnen die freien Plätze an. Sie nehmen dankend an. Sie gehen alle gemeinsam zu einem Würstelstand und werden auf noch ein Bier eingeladen. Sie unterhalten sich über Gott und die Welt. Sie gehen rüber zum OK, fahren mit dem Lift zum Mediendeck hinauf und finden dort eine gelangweilte Truppe vor. Sie verlassen das Mediendeck augenblicklich wieder und machen sich mit ihrer Begleiterin über die miese Stimmung drinnen lustig, vor allem über den erbärmlichen Geruch nach muffigem Turnsaal und stinkenden Füßen. Sie verbringen noch ein Bisschen Zeit auf dem OK-Platz, bringen Ihre Begleiterin wohlbehalten nach Hause und gehen dann selbst heim schlafen.

Am nächsten Tag wachen Sie ohne Kater auf und beginnen nach einem kleinen Frühstück damit diesen Beitrag zu schreiben. Sie bedanken sich bei Ihrer Begleiterin und Sponsorin per SMS für den schönen Abend. Sie meldet sich einige Zeit später und sagt Ihnen zu die Handy-Aufnahmen, die Sie beide vom Konzert gemacht haben, zu schicken. Sie gehen auch Ihr eigenes Handy durch und finden folgenden Satz, den Sie am Vortag eingetippt haben – in Anlehnung an und Reflexion über Sigmund Freuds Todestrieb (oder dessen Widerlegung durch Wilhelm Reich oder Verteidigung durch Jacques Lacan oder an Lacan angeschlossenes Postulat Slavoj Žižeks oder was zur Hölle auch immer):

‚Welchen vernünftigen Grund für das gelegentliche Streben nach Entgrenzung hätte der Mensch, wenn nicht den, mit seinem unvermeidlichen Tod sich anzufreunden?‘

Ein Bisserl hochtrabend vielleicht, zugegeben, aber fragen wird man ja wohl noch dürfen.

AG…

Pics by Niq (thanks for sharing) & MxO, remixed by MxO

 

Mag. Rozsenich (vormals Frau Márkos [vormals Monsieur O])

Mag. Rozsenich (vormals Frau Márkos [vormals Monsieur O])

Künstlert, schriftstellert und restauriert (zumindest laut Statistik Austria).

Mag. Rozsenich (vormals Frau Márkos [vormals Monsieur O])

Autor: Mag. Rozsenich (vormals Frau Márkos [vormals Monsieur O])

Künstlert, schriftstellert und restauriert (zumindest laut Statistik Austria).