Drei schwarze Pädagog♥inn♥en und ein Albino

Allseitig vom 01.04.2018

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Viel wird geschwätzt in den letzten Tagen, Wochen, Monaten, Jahren und Jahrzehnten über Bildung. Die Worte ‚Schüler‘ oder ‚Schülerin‘ werden dabei weniger gern in den Mund genommen als zusammengesetzte B-, (mitunter schiefe) P- oder andere S-Substantive. Ich kann da ohnehin nicht mitreden, da mir die leiseste Ahnung fehlt, was sich in einem Klassenzimmer zurzeit abspielt. Das ist ja wohl nach wie vor für die meisten ein Raum hinter geschlossenen Türen (und das ist im Grunde auch okay so), oder? Wie gesagt: nicht den blassesten Dunst.

Ich selbst hatte als Schüler, ich beschränke mich da heute einmal auf die mittlere Schule, das Glück zumindest drei Lehrer*innen zu haben, die mich für eine Menge Unbill und eine Reihe ihrer – sagen wir mal – nicht so berufenen Kolleginnen und Kollegen mehr als entschädigt haben. Kein schlechter Schnitt (oder setzt bei mir schon die Altersmilde ein? Wie unsexy! ;).

Neben dem einen, der für Zeichnen und Malen, dazumals mit dem coolen uncoolen Namen ‚bildnerische Erziehung‘ bezeichnet, zuständig war (womit der seinige fast genannt wäre), fällt mir noch die andere ein, die dafür Sorge zu tragen hatte, dass das mit der Sprache klappt, um die deutsche Sprache ging’s (was jetzt auch ihre Identität beinahe preisgibt). Und schließlich noch der eine, dessen Name mir gar nicht mehr einfallen will, obwohl er mir der wichtigste war unter den dreien Magistern und Magistras (oder -trae, äh… sagen wir einfach, der Lateiner war nicht so berauschend, na, egal, damals war das ohnehin noch nicht so virulent, da hieß das einfach Frau Professor [oder häufig auch ‚Frau’Fessa‘]), der wichtigste weil fürs Historische zuständig und Charakterzüge aufweisend, die ungeheuer selten sind: Liebenswürdigkeit und Schneid. Er war, so muss ich anmerken, auch der älteste im Bunde.

Mein Zeichenlehrer nun war also ein junger Mann, ein Bisserl freaky, Motorradfahrer, trug den gachgrünen Trachtenjanker mit Stolz (nicht als fad identitäres Pseudovolkszugehörigkeits- und im Grunde lächerliches Selbststigmatisierungsumhängsel), die Haare lang und stets ein breites, glattes Lederband ums Handgelenk, das ihm ein wenig geheimnisvoll anhaftete. Mag sein, dass er ein klein wenig misogyn wirken konnte, manche Mitschülerin beklagte sich in diese Richtung. In der Tat schien er einen besseren Draht zu männlichen Eleven zu haben. Allerdings würde ich gerade da ein wenig Milde walten lassen. Mädchen im frühpubertären Alter waren (und sind wahrscheinlich noch immer) insbesondere für einen jungen Lehrer eine nicht zu unterschätzende Herausforderung. Und der gute Mann war auch noch für den Werkunterricht zuständig, und dieser war im letzten Jahrhundert noch eine Bastion der Jungs, obwohl gerade hier sich seine Beliebtheit bei den Mädels sogar besserte.

Wie auch immer, was ihm an mir gelang, auch wenn ich mich rückblickend als zeichnerischer (wohl kaum als handwerklicher) Klassenprimus bezeichnen muss (und das ganz ohne Arroganz, denn die beste Definition von Talent ist noch immer jene, wonach es sich bei talentierten Menschen einfach um solche handelt, die mehr Begeisterung für eine Sache aufzubringen imstande und infolgedessen auch mehr dafür zu erdulden bereit sind: Ethusiast*inn*en halt. Mehr ist da nicht dran und Untätigkeit rächt sich auch bei diesen, ich weiß, wovon ich spreche), was er also zustande brachte, war bemerkenswert. Den schönen Künsten nämlich sowohl den unseligen Heiligenschein des Göttlichen als auch das geringschätzige Abtun als Zeitvertreib auszutreiben. Ein kunsterziehender Schamane also, wenn man/frau/kind so will, und das ganz ohne Hokuspokus.

Mir ist ein unscheinbares und stilles Beispiel in Erinnerung, das mir nie schwergefallen ist wachzurufen. Dabei war etwas Einfaches zu malen, möglichst auch auf einfache Weise, eine Parkbank, ein Baum, vielleicht ein Berg im Hintergrund. Kein Caspar David Friedrich, nur ein paar Farbflächen auf kleinem Format, sodass gerade erkennbar war, worum es sich handelte. Dazu waren in unserem Alter die meisten fähig, und partout Malunwillige wurden sowieso stets geschont vom Herrn Professor. Das einzig Schwierige, worauf sich einzulassen die Schüler*innen bereit zu sein hatten, war die kleine Szenerie zweimal zu zeichnen. Einmal im Winter und einmal zu freundlicherer Jahreszeit. Der saisonale Unterschied sollte im Wesentlichen nur farblich erwirkt werden.

Dass eine rote Bank nicht gleich rot war im Sommer wie im Winter, dass jene von Zinnober zu Karmin changieren kann, zeigt sehr eindrücklich eine mögliche Funktion des Farbeinsatzes, an kristalliner Klarheit einer mathematischen Funktion in nichts nachstehend. Ist dieses Prinzip aber, das der oder die Unbedarfte zuerst gar nicht recht glauben möchte, erst einmal eigenhändige papiergewordene Realität geworden, gerät das Staunen angesichts der Bildwirkung augenblicklich zum Verstehen. Dieser immerfreundliche (das kann schwerlich abgestritten werden), nicht immer geduldige Lodenfreak (auf den ‚Professor‘ pfiff er übrigens als einziger) hat es fertiggebracht, zu vermitteln, dass es in der Erschaffung von Bildwerken auch etwas zu wissen gibt und zu begreifen, das hilfreich ist und praktikabel, das einen weiterbringt und tiefer blicken lässt, das durchaus handfest ist und dennoch zauberhafte Wirkungen hervorbringt. Dass Kunst nicht nur Kunst ist, sondern gleichzeitig auch eine zielgerichtete Tätigkeit wie jede andere. Wenn das keine Großtat ist, noch dazu in dem (zumindest damals) am meisten unterschätzten Unterrichtsgegenstand überhaupt!

Frau Professor (nicht die Frau Professor, also die Frau vom Professor, solchen Schwachsinn gab es damals auch noch) war streng. In jeder Hinsicht. Das schwärzeste nur erdenkliche schwarze Haar glatt zurückgekämmt oder in Anlehnung an die Diven der Fünfziger- und Sechzigerjahre perfekt in halbrunde Form gebracht, oft beige gestiefelt und mit enganliegendem Kostüm, gerne leopardenhaft gemustert aber trotz ihres etwas fortgeschrittenen Alters nie peinlich wirkend war es gewohnt zu fordern (wohl deshalb wurde sie von manchen mit einem der ägyptischen Herrscherin schlechthin entlehnten Spitznamen bedacht). Fachlich kompetent, unglaublich kultiviert, kosmopolitisch (ohne, dass jemand von uns das Wort kannte, haben wir doch dessen Bedeutung begriffen), schwarzhumorig, leider öfter mal ungerecht (und auch sie stand im Verdacht der Misogynie, wenn auch von anderer Seite als der Kollege) war diese Lehrerin in einem der wesentlichsten aller Fachbereiche eines mit Sicherheit: eine unumstößliche Persönlichkeit und eine regelrechte Erscheinung.

Und sie hatte eine ebenso umfassende Kenntnis der wie eine undogmatische Haltung zur Sprache. Nicht, dass sie uns grammatikalisches Wissen und Verständnis – Rechtschreibung war bei ihr beinahe schon nachrangig – nicht regelrecht eingehämmert hätte, sie konnte da gnaden- und rücksichtslos sowohl gegen Sprachfaule als auch Sprechunbegabte vorgehen, schließlich handelte es sich um ein sogenanntes neusprachliches Gymnasium. Nicht, dass selbst Vorzugsschüler und Vorzugsschülerinnen (auch solchen Schwachsinn gab es damals noch) nicht büffeln mussten um nur halbwegs zu bestehen. Nicht dass sie den Aufmüpfigkeiten und Grillen ihrer pubertierenden Geschlechtsgenossinnen nicht mitunter aufs fieseste ihrerseits mit hartnäckigem Aufsitzen und beißendstem Sarkasmus scheinbar bis an die Grenze zur Gehässigkeit begegnete. Nicht, dass sie nicht mehr als einmal den Eindruck erweckte, Töchter und Söhne aus gutem Hause aufgrund deren Bildungsvorsprungs zu bevorzugen und den Bildungsnachteil anderer unberücksichtigt zu lassen.

Aber all das war am Ende des Jahres betrachtet weitaus weniger willkürlich, eitel, ungerecht und perfid als es in der jeweiligen Situation den Anschein gehabt hatte. Es bekamen so ziemlich alle ihr Fett ab und sie konnte auch voll des Lobes sein, für alle möglichen von uns. Sie war da einfach ein vollständiger Mensch (und im Grunde ein herziger), genau wie in der Literatur. Ich denke, sie hat es verstanden genau das, etwas über den Lehrplan weit hinausgehendes, zu vermitteln. Um eine Sprache zu verstehen – und sei’s die Muttersprache, oder gerade diese – bedarf es zunächst der Bereitschaft all ihre Facetten anzuerkennen, und die können auch ziemlich finster sein.

Was ihre unkonventionelle Art mit Literatur umzugehen angeht, trifft es wohl ein Adjektiv am besten: locker. Das passt jetzt gar nicht auf das bisher Geschilderte, könnten Sie vielleicht meinen. Oh doch, sehr sogar. Sie müssen sich das konservativste Gymnasium in einer mittelgroßen Stadt vorstellen und dann steht da vor versammelter Klasse eine filmreife Femme fatale und liebt natürlich die Klassiker (vor allem Goethe, wenn ich nicht irre), aber sie ist klug, sie weiß trotz allem, dass da Elf-, Zwölf-, Dreizehn-, Vierzehnjährige sitzen, und die gilt es zu begeistern. Die schwere Kost hat noch Zeit. So kann sie, das konnte kaum jemand von uns Schüler*inne*n erwartet haben, mit dialektgepfefferter Theaterdichtung à la Nestroy und Raimund das schwierige mündliche Vortragen von Texten ein wenig entspannter angehen lassen. Gut, das mag noch nichts außergewöhnliches sein, vor allem aus heutiger Rückschau. Sie bedenkt ihre Lieblingsautoren gerne mit drolligen Spitznamen, auch das hat wohl nicht sie erfunden. Aber Frau Professor outet sich auch als große Verehrerin von Ernst Jandls Dichtung, und lässt diesen Großmeister vor allem eines: vom Band sprechen, oder besser gesagt lautstark aus dem Kassettenrekorder scheppern – für junge Sprachinteressierte geradezu ein Erweckungserlebnis, auch kommt dabei der politische Aspekt nicht zu kurz.

Hingegen fällt mir auf, dass ich mich nicht entsinnen kann jemals Schillers ‚Glocke‘ auswendig lernen gemusst zu haben. Auch wurde rückblickend betrachtet unter ihrem strengen Regiment erstaunlich viel gelacht im Klassenzimmer. Und was den politischen Aspekt betrifft, fällt mir da jetzt noch etwas Bemerkenswertes ein. Thomas Bernhard war zu jener Zeit tatsächlich noch ein heißes Eisen in Österreich, ‚Holzfällen‘ wurde beschlagnahmt (zu ‚Heldenplatz‘ war es noch ein Weilchen hin). Frau Professor kann sich diesbezüglich nicht verkneifen ein wenig stolz darauf zu sein ein Exemplar des verbot’nen Buchs zu besitzen und vermittelt dabei nebst aller politischer Brisanz auch noch etwas für Heranwachsende Unerhörtes: Literatur kann auch gefährlich sein. Anarchie. Mensch sein und eine Sprache sein eigen nennen ist ein Abenteuer. Dafür empfinde ich noch heute Dankbarkeit und muss mir eingestehen, dass ich als Mittelschulabbrecher vielleicht den Unterricht dieser einen außergewöhnlichen Persönlichkeit als Einziges bedaure nicht bis zur Maturantenreife erlebt zu haben. So manches andere Personal des Gyms betreffend kann ich das nicht immer behaupten. Und mich würde eines interessieren: was sie wohl ein paar Jahre später zum Gendern gesagt hätte. Eigentlich müsste sie’s gehasst haben. Aber wer weiß, womöglich wäre ihr ja etwas Spaßiges eingefallen zum heiligen generischen Maskulinum? Ich komme zur Historie, sonst schwärme ich noch weiter (schließlich konnte ich mich zusammen mit Freunden damals sogar begeistern außerhalb des Unterrichts und freiwillig Nietzsche zu lesen, und das als lesefaules Kind ohne nennenswerte eigene oder elterliche Büchersammlung).

Der ältere Herr war ruhig. Ich kann mich nicht genau erinnern, wie seine Stimme klang. Recht tief, aber nicht allzu sonor, würde ich sagen. Er war von stattlicher Statur, bedächtig, trug fast immer einen schlichten aber schicken Anzug. Er machte ab und zu gerne harmlose Witzchen, war auch mal goschert zu irgendwem, aber nie kränkend. Der- oder diejenige wusste stets, dass das kein persönlicher Angriff war, bloß ein wahlloser Spaß, da hatte der Herr Professor irgendwie den Dreh heraus (und blieb dennoch selbst stets ernst dabei). Irgendwie verschmitzt aber knochentrocken. Und er hatte eine ungewöhnliche Angewohnheit. Sehr selten schmiss er plötzlich ohne Vorwarnung ein paar Zuckerl in den Klassenraum. So als hielte er eine kleine Stärkung im anstrengenden Unterricht augenblicklich für nötig. Das war auch insofern bemerkenswert, da wir ja in der Unterstufe langsam darauf vorbereitet wurden Erwachsene zu werden, zum Beispiel stets mit Nachnamen angesprochen zu werden, gewisse Umgangsformen und Höflichkeit zu pflegen etc. (was von gewissen Lehrer#inne#n nicht immer zu erwarten war). Und dieser Mann also verwandelte uns – nur so ab und zu – wieder in Kinder. Und ich kann mich an keine Mitschülerinnen oder Mitschüler erinnern, die diesen grauhaarigen Herrn mit seiner leicht grantelnden Art nicht irgendwie mochten.

Der Unterricht war nicht besonders aufregend und vor allem nicht der mühseligste. In der Benotung gab es keinen der nachsichtiger war. Unser Geschichtslehrer machte sich nicht allzuviel aus Jahreszahlen oder überbordenden historischen Details. Eher war bei ihm ein gewisser Schwerpunkt auf die sogenannte Zeitgeschichte zu bemerken. Was mich jetzt zu meiner eigentlichen Story über ihn bringt. Es geht dabei um das Schwierigste, das ein Lehrer der Geschichte zu vermitteln hat. Den Holocaust. Die Schoah. Verdammt! Die massenhafte, industrielle Folter und Ermordung von über sechs Millionen Menschen, vornehmlich jüdische Mitbürger und Mitbürgerinnen, durch die Nationalsozialist׀inn׀en. Machen Sie das mal einem Kind klar! Und zwar rechtzeitig! Da müssen Sie schon etwas auf dem Kasten haben.

Ich weiß noch, dass wir irgendwann auch das ehemalige Konzentrationslager in Mauthausen besuchten, wobei ich nicht mehr sagen könnte, ob dieser es war, der uns begleitete oder eine andere Lehrkraft, wahrscheinlich mehrere. Eine Begebenheit hat sich mir jedoch eingebrannt. Und das lief wie folgt ab und – wie gewohnt beim Herrn Professor – unspektakulär. Es gab in einem der unteren Geschosse der Schule einen kleinen Raum, der mit einigen Sitzreihen bestuhlt war und uns als Kino diente.

Unser Geschichtsprofessor bereitete uns sehr ernst aber ruhig auf einen Film vor, der aus Aufnahmen bestand, die die Alliierten nach der Befreiung der Konzentrationslager im geschlagenen Nazideutschland gemacht hatten, möglicherweise auch aus Material, das sie aufgefunden hatten. Er war sichtlich etwas ernster als sonst und auch ein wenig fürsorglicher. Er wies uns dabei auch explizit darauf hin, dass es völlig in Ordnung sei wegzusehen oder den Raum zu verlassen, wenn es unerträglich würde, so genau weiß ich das nicht mehr, vielleicht sollte der- oder diejenige ihm ein Zeichen geben, es war ja dunkel und es könnte ja jemand stolpern.

Der Film selbst war wochenschauartig montiert, mit einem moralisierenden Kommentar versehen, allerdings nicht wirklich propagandistisch oder penetrant. Ich empfand die Tonspur eher als traurig. Die Bilder dazu sind ein unauslöschlicher Schock. Es geht dabei gar nicht sosehr um den Sinnzusammenhang dessen, was jeweils gerade im Einzelnen zu sehen ist. Mehr um Grundsätzlicheres, um das Unbegreifliche, das da irgendwo zwischen den Schwarzweissbildern flackert. Da werden Haufen und Berge zu Skeletten abgemagerter, glatzköpfiger, toter, nackter Menschen mit Baggerschaufeln in Gruben geschoben. Die purzeln durcheinander wie groteske dürre Gummipuppen. Und da sind noch mehr ausgemergelte, kahlgeschorene Menschen, bei denen es oftmals schwierig ist überhaupt das jeweilige Geschlecht zu erkennen, die sich tatsächlich noch auf eigenen Beinen halten und sich etwa auf die Kamera zu oder von dieser weg bewegen oder einfach dastehen und uns anstarren. Da sind Menschen zu sehen, lebendige Menschen, die keine Menschen mehr sein können, die müssen doch tot sein. Immer wieder Berge, Haufen, Berge von irgendwas oder aus irgendwem.

Und der Streifen ist verdammt lang. Da ist nichts von öffentlich rechtlichen Sendeanstalten vorselektiert. Ich weiß noch, dass ein, zwei Schüler oder Schülerinnen irgendwann doch den Raum verließen, das verursachte ein kleines Durcheinander. Die schämten sich sogar ein wenig dafür, weil sie sie nicht ertragen konnten, die Sinnesfolter. Doch niemand hätte daran gedacht ihnen das ernsthaft übel zu nehmen oder sie geringzuschätzen, zumindest nicht, dass ich wüsste. Jeder und jedem im Raum war irgendwie klar, dass er oder sie da später Zeuge, späte Zeugin von etwas wurde, das die Grenzen dessen bei weitem überschritten hatte, was Menschen jemals zustoßen hätte dürfen, was nicht einmal Vieh zugemutet würde. Ja, es war nicht einmal möglich sich das Geschehen sogleich als etwas vorzustellen, das überhaupt irgendjemand anderen Menschen vorsätzlich und mit Bedacht angetan hatte. Das dämmerte uns dann erst später. Wir sahen einfach, was da war. Ein nüchterner Industriefilm als Beleg absolutester Grausamkeit und Erniedrigung, ein apokalyptisches Schlachthaus in einem dystopischen Paralleluniversum aus der Vergangenheit, in dem gerade aufgeräumt wurde, der unumstößliche Endpunkts jedes auch nur im entferntesten vorstellbaren Schreckens (leider wissen wir, dass der bis jetzt nie ganz aufgehört hat). Für uns endete er quasi abrupt, nachdem das Licht wieder angeknipst wurde.

Wir haben’s dann schließlich alle ganz gut überstanden. Manche redeten viel nachher, konnten nicht umhin bestimmte Szenen mündlich zu wiederholen, hielten sich dabei die Hände vors Gesicht. Andere schwiegen lieber. Alle wurden irgendwie auf ihre eigene Weise damit fertig. Allesamt hatten wir uns tapfer gehalten. Trotz allem war es ein Film, es gab nichts, was wir unmittelbar zu befürchten hatten. Ich glaube nicht im Geringsten, dass irgendwer aus unserer Klasse dadurch ernstlich traumatisiert wurde. Eher schon kam die Unterrichtsstunde einer Schutzimpfung gleich – vor der schlimmsten hochansteckenden Krankheit, die die Menschheit kennt. Nun, Impfungen rufen halt auch kurzzeitig Reaktionen hervor, mitunter heftige aber in der Regel vorübergehende. Und wir hatten unseren Lehrer, den wir mochten und der sich sehr behutsam näherte, sich zu uns gesellte und uns bei unseren Gesprächen zuhörte (und der das eben Geschaute, soweit ich mich erinnere, auch nicht gleich groß kommentierte). Mit Sicherheit hat das Gesehene aber kein Schüler und keine Schülerin vergessen, das halte ich einfach für ausgeschlossen. Und ich bilde mir felsenfest ein, es gab, vielleicht nicht gleich, ein paar Zuckerl. Mann! Süßigkeiten, das einzige hundertprozentig sofortwirksame Mittel um ein kleines Bisschen weniger traurig zu sein. Das nenn‘ ich echt Chuzpe.

Unlängst ist mir in Fernsehinterviews mit KZ-Überlebenden wieder einmal dieser eine Satz aufgefallen. Sie kennen ihn bestimmt, er kommt immer wieder. Man könne das unfassbare Geschehen nicht vermitteln, sich nicht vorstellen, nicht beschreiben. Sinngemäß. Das leuchtet ein. Ich wär‘ der Letzte, der dem widersprechen möchte. Da fällt dann auch der eine oder andere Begriff, der unmöglich scheint mit sogenannten modernen Zeiten assoziiert zu werden. Dem alten Herrn auf dem Bildschirm fällt es sichtlich schwer über die Todesmärsche zu sprechen, es gibt Dinge, die auch er nicht ansprechen will, obwohl er mehr als ein Vernichtungslager überlebt hat und es anscheinend immer noch als nötig ansieht darüber Zeugnis abzulegen. Schließlich spricht er den Tränen nahe dann doch das unvorstellbare K-Wort aus – ein Ismus noch dazu – und verpackt das Substantiv in einen Scherz, den bittersten, den ich je gehört habe. Er hätte Glück gehabt auf einem der finalen Märsche, dass da doch noch ein Stück Fleisch dran war – an einer Hüfte.

Bilden wir mal einen einfachen Satz, ganz simpel, SVO – Subjekt-Verb-Objekt – und versuchen wir uns vorzustellen wir seien es, die da sprechen: ICH VERZEHRE MENSCHENFLEISCH. Und noch einen, der da spricht in uns, mit einem unbestimmten Artikel dazu: ICH BIN EIN TIER. Ich habe keine Ahnung, wie weit Ihre Imagination reicht. Für mich klingt das eher wie aus einem schlechten Horrorfilm, mein Vorstellungsvermögen langt da bei weitem nicht. Ich schaue diesen Menschen ins Gesicht, den letzten, die noch selbst davon berichten können, wenn auch nur am Monitor, und mir ist klar, dass ich gar nichts begreife. Aber… ich wage mich jetzt mal weit vor für meine Verhältnisse… aber dennoch ist es vielleicht möglich eine leise Ahnung davon zu bekommen. Und das schadet nicht, auch nicht minderjährigen Kindern. Das macht auch Sinn. Das schärft die Sinne. So wittert’s Menschenkind die gottverdammte kackbraune Soße schon von weitem – hundert Meter gegen den Wind. Schon kleine Spritzer davon, auch an sich selbst. Halali?

Von meinem Geschichte-Lehrer weiß ich wie gesagt den Namen nicht mehr, aber ich weiß mit Sicherheit, dass der nicht misogyn war, und auch nicht der Misandrie anhängig, das war dem Herrn Professor einfach wurscht.

AG…

Und lieben Gruß vom Osterhas oder -Pipperl, liebe Leserin, lieber Leser. Der dicke Osterstriezel gebührt übrigens dem Schulwart, dem mit dem kaffeebraunen Arbeitsmantel, der – neben seiner Zuständigkeit für die Schulmilchausgabe – in der großen Pause immer Wurstsemmeln, Getränke und irgendwelches Mehlspeis- und Zuckerlklumpert verkaufte, den Schulhof immer von Laub und heruntergefallenen Ästen befreite und überhaupt mit seinen Kollegen die Bude weiter am Laufen gehalten zu haben schien, als sich der alte Kasten wegen unzähliger Umbauten nach und nach in ein einziges labyrinthisches Chaos verwandelte. Vor dem ich am Anfang immer ein wenig Spundus hatte ob seiner etwas ruppigen Art, und den ich als Elfjähriger in der Schlange am Pausenstand wartend ab und zu verstohlen von der Seite ansah, um unbemerkt einen Blick auf seine schneeweißen Wimpern zu erhaschen, die mich faszinierten. Der war überhaupt der coolste. Das schlimme A-Substantiv war mir damals noch nicht wirklich geläufig, das hab‘ ich dann von einer nahen Verwandten gesteckt bekommen und auch, dass man das nicht sage. Wünsche allseits schöne Feiertage!

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Mag. Rozsenich (vormals Frau Márkos [vormals Monsieur O])

Mag. Rozsenich (vormals Frau Márkos [vormals Monsieur O])

Künstlert, schriftstellert und restauriert (zumindest laut Statistik Austria).

Mag. Rozsenich (vormals Frau Márkos [vormals Monsieur O])

Autor: Mag. Rozsenich (vormals Frau Márkos [vormals Monsieur O])

Künstlert, schriftstellert und restauriert (zumindest laut Statistik Austria).